Gesellschaft als Seinsebene - Einführung in die ExistenzEbenenAnalyse (Folge 9)

23/3/16 +++ In unserer kleinen Philosophie-Reihe zur Einführung in die Transzendental-phänomenologische ExistenzEbenenAnalyse als Beratungsmethode in der PPL werfen wir heute aus gegebenem Weihnachtsanlass einen kleinen Blick auf die vierte von neun basalen Ebenen des realen Seins einzelner Menschen: die Gesellschaft.

Zuletzt war auf der dritten Ebene der „Nah-Welt“ die Rede von Strukturen, die gerade deshalb Sicherheit (Vertrauen, Bedeutung) schaffen und bieten, weil sie mehr „Unfestigkeit“ (etwa in Haltungen oder "Meinungen") zulassen als das, was heute Thema sein soll: eine Gesellschaft, die dem Einzelnen jedenfalls in unserer Zeit vorrangig in dicht gewebten, vor allem medial geprägten Diskursen begegnet. Ein einfaches, für jedermann gerade zu dieser Zeit erfahrbares Beispiel ist die Weihnachtszeit, von der überall zu hören, zu lesen und zu sehen ist, welche Anforderungen an Anpassungsleistungen der Einzelne zu erbringen hat, um der aktuellen Diskurslage oder Diskursgruppe hinreichend zuzugehören. Diese Anforderungen reichen von der (zumindest kurzzeitigen) Anknüpfung an als wesentlich „christlich“ codierte Rituale (wie Weihnachtskonzerte besuchen oder am Heiligabend in die Kirche gehen) bis hin zur allgemein anerkannten Aufforderung, sich auf die eine oder andere Weise zu „besinnen“ (oder wenigstens den Wunsch danach zu haben oder zu äußern), während gleichzeitig die Organisation von Familien-Tagen und Geschenke-Verteilungsprozessen unabdingbare Pflichten für die Einzelnen (auch als psychische Systeme) im sich aktuell so formierenden Gesellschaftsdiskurssystem darstellen. (Dieses Schlaglicht betrachtet natürlich hier nur die gesellschaftliche Seite, nicht die für den Einzelnen vielleicht am Ende viel interessantere des eigentlichen, ins Metaphysische gerichteten „Glaubens“ oder einer bestimmten „Religion“. Zu diesen Themen kommen wir erst auf der letzten, der neunten Existenzebene in unserem TEEA-System.)

Wenn man stark vereinfachen will, kann man sagen: Gesellschaft als Seinsebene ist die Welt der „Political Correctness“, die aus den medialen Welten (von den gedruckten Leitblättern bis zu den deutlich unstrukturierteren Social-Media-Plattformen) in alle Lebenswelten eindringt und inhaltliche wie formale Diskurs-Regeln vorgibt und dem jeweils betroffenen Einzelnen Rollenmöglichkeiten anbietet, die ein gemeinsames „Gesellschaftsleben“ (auch: ein Miteinander-über-etwas-Sprechen) erlauben. Allgemein gesprochen werden solche Regeln aus diskursiven Anknüpfungen an Traditionen vielerlei Art (in Deutschland beileibe nicht nur des Christentums) gewonnen, wobei diese ständig medial umgewälzt, aktualisiert, abgewandelt und aufgehoben werden. Aus existenzieller Sicht des Einzelnen begegnet ihm dabei eine oft launisch schwankende „öffentliche Meinung“, von der er zumindest so viel wahrnehmen muss, dass er „mitreden“ oder sich wenigstens auf die eine oder andere Weise abgrenzen (auch: echauffieren) kann. Diese Welt der öffentlichen, gesellschaftliches Bewusstsein zentral ausmachenden Diskurse ist per definitionem nicht wahrheitsorientiert, sondern zielt auf systemische Stabilisierung, was eine wichtige Funktion ist, was aber vom Einzelnen nicht als „Wahrheit“ (im Anspruch oder in einzelnen Ideologemen) missverstanden werden sollte.

Womit wir bei der häufig besonderen Bedeutung dieser gesellschaftlichen Existenzebene in der philosophischen Beratung von Einzelnen, aber auch kleineren Gruppen (wie Unternehmensführungsteams) wären: Es stellt sich regelmäßig heraus, dass die persönliche (oder auch unternehmensidentitätsbezogene) „Erzählung“ von sich selbst in „Widersprüche“ zu diskursiven Ansprüchen gerade auf der gesellschaftlichen Ebene gerät. In der Geistesgeschichte, auch im Bereich der philosophischen Gesellschaftslehre, Ethik und Kulturtheorie, wird dieser Effekt zum Beispiel als „Dialektik“ von Ich und Welt vielfältig thematisiert, aber auch als Werte-Diskussion, als Gerechtigkeits-Begriff oder als Unterscheidung von Normativität und (statistischer) Normalität.

Unter TEEA-Perspektive geht es für den Einzelnen darum, einerseits seine Denk-, Wissens-, Mitspiel-Rolle im Meer der ihn gewissermaßen überflutenden Diskurs-Bruchstücke zu finden, andererseits für die innere und äußere „Ich-Rolle“ im eigenen Leben die anderen Existenzebenen als ebenso gültig und wichtig offenzuhalten und zu berücksichtigen. Mit anderen Worten: Der Einzelne findet oder baut sich stets eine relativ „eigene“ Bedeutungswelt, wozu die Reflexion auf den neun Ebenen im Rahmen der TEEA hilfreich sein kann. Zum Beispiel dann, wenn er erkennt: Was wie ein (irgendwie „aufzulösender“) „Widerspruch“ aussieht, ist realistisch oft „nur“ eine Ebenen-Perspektivenverschiebung. Ein komplexes modernes ICH ist vielleicht nicht unbedingt gezwungen, die logische oder konsequentialistische Widerspruchsfreiheit innerhalb einer Lebensebene oder zwischen den Rollen in verschiedenen Ebenen zu garantieren. Vielmehr kann es sich mit verschiedenen „Meinungen“ auf verschiedenen Ebenen (leiblich-seelisch-geistig) „wohlfühlen“; zum Beispiel kann ein Wissenschaftler auf Ebene 8 (zu der wir später kommen) ein streng naturwissenschaftlich-nomothetisches Weltbild vertreten, aber zugleich und für sein inneres Selbstsein absolut widerspruchsfrei auf Ebene 9 (Ontologie/Metaphysik) an irgendeinen traditionell vorgegebenen oder selbstgebastelten Gott glauben.

Phänomenologisch-existenziell und mit der Erfahrung des auch diskursanalytisch informierten TEEA-Ansatzes betrachtet neigt der Mensch zwar einerseits zur Suche nach möglichst vollständiger „Selbst-Übereinstimmung“ (dies sicherlich auch geschuldet dem gesellschaftlich-diskursiv aktuell mächtigen Menschenbild des starken, sich optimal „ausschöpfenden“ Ichs) in einem möglichst geschlossenen Bedeutungsgebungskonzept, einer irgendwie „wertvollen“ ICH-Erzählung, die mit den anderen „großen“ ICHen der Gesellschaft ausreichend Anerkennung tauschen kann. Andererseits kann aber die Erkenntnis der eigenen Relativität und Perspektivität in den ernsthaft wahr- und angenommenen Denk- und Fühl-Positionen auf den verschiedenen Existenzebenen den Einzelnen auch von dem Dauerdruck, gesellschaftlich „genügen“ zu müssen, zumindest ein wenig entlasten. Hier wird die TEEA in der praktischen Beratung dann manchmal auch so etwas nur scheinbar Triviales wie „Lebensphilosophie“ im umgangssprachlichen Sinne: eine anfassbare und nutzbare Philosophie fürs eigene Leben, ohne jeden „wissenschaftlich“-gesellschaftlich-diskursiven „Wahrheit“sanspruch.

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